Das Fastentuch in Schutzengel

Sie sollten der Gemeinde den Blick auf die dort dargestellte Herrlichkeit Jesu und der Heiligen verwehren. Diese Textilien nannte man Fastentücher (Velum quadragesimale), aber auch Hungertücher oder Schmachtlappen.
Sehr oft wurde auf ihnen ein großer Blick durch die Heilsgeschichte dargestellt, insbesondere aber das Leben und Leiden Jesu. In Österreich sind vor allem in Kärnten viele Fastentücher aus dieser Tradition erhalten.
Im Festkreis des Kirchenjahres stellt das Fastentuch eine Unterbrechung dar. Es soll den Blick, der sonst auf das Altarbild gelenkt ist, auf das Leid heute lenken und uns so eine Chance zu neuer Aufmerksamkeit geben: Woran leiden Menschen heute Worum machen sie sich Sorgen?
Die Fastenzeit bringt diese Leiden der Welt in Verbindung mit dem Leiden, das Jesus auf sich genommen hat. Unsere Leiden und die Leiden Jesu sollen zusammen gesehen werden. Jesus war arm, wie viele heute arm sind, Jesus wurde gefoltert wie viele heute gefoltert werden. Durch unsere Leiden sollen wir das Leiden Jesu besser verstehen und durch das Leiden Jesu die Leiden der Menschen.
Aber das Leben Jesu war nicht nur eine Leidensgeschichte, sondern eine Geschichte der Überwindung dieser Leiden und der Heilung. Es war eine Geschichte der Auferstehung, die im Leiden begann und mitten im Leid durchbrach.
Zur Technik und Durchführung
Das Material ist Molino, ein sehr einfaches naturfarbenes Material.
Das Trägertuch besteht schon aus mehreren Bahnen; auf diese wurden wieder die einzelnen gestalteten Tücher aufgenäht: So entsteht eine Art Patchwork. Da die einzelnen Teile auch von ihrer Materialfarbe unterschiedlich sind, ergibt sich ein leichte farbliche Struktur und Gestaltung.
Molino ist ein einfaches Material für Tücher und Linnen und kann erinnern an Einhüllen von Verwundeten und auch Toten. Es ist aber auch das Material, mit dem Modedesigner ihre Modelle entwerfen.
Zerschneiden und Nähen
Das Tuch ist an einigen Stellen zerschnitten -und wieder genäht. Die Schnittstellen sind unterschiedlich lang; die Nähte unterschiedlich grob oder fein und unterschiedlich in der Farbe.
zerschnitten und mit Nähten verbunden. Jesus wurde verwundet und verletzt bis zum Tode.
Verletzt werden und geheilt werden. Wunden werden zugefügt und wieder verbunden. Schnittstellen entstehen und werden wieder überbrückt.
Und Verwundete sind wir immer – von Geburt an. Zuerst der Schnitt, mit dem die Nabelschnur durchtrennt wird beim Kind, ein anderer Schnitt – möglicherweise auch ein Kaiserschnitt – bei der Mutter. Beide verletzt. Aber dann versorgt und verbunden, genäht und wieder geheilt, durch Nähte, mehr aber noch durch die Liebe, die dahinter steht.
Und dann die vielen Verletzungen und Verwundungen durch die Tage und Jahre, - selbstverschuldet, der Schnitt in den Finger, durch einen Sturz - oder zugefügt von anderen, durch Absicht – oder aus unheilvollem Zusammentreffen, oder aber auch gezielt und gewollt…Und die inneren Verletzungen durch ausgesprochene Worte oder durch verweigerte Worte…
Und dann die Nähte, das Verbinden und dadurch die Heilung. Manche Spuren tragen wir zeitlebens weiter.
Die Farbe der Verletzung – das Rot des herausquellenden Blutes; bis zum Ende hin dunkel werdend und schmutzig und schwarz.
Was am Menschen geschieht, geschieht auch an Tieren, an der Erde selbst, an Umwelt und Luft. Vieles ist geschehen an Verwundung und schreit nach Verbinden und Heilung. Auch was wir wie Verwundung erleiden an unserem Inneren, oder an Trennung voneinander, von der Natur und von Gott…
Im unteren Bereich des Tuches sind Worte aufgetürmt und bilden optisch gleichsam einen Berg des Leidens, einen Kalvarienberg. Es sind Worte, Ausrufe, Wehklagen, die wir hören oder ausstoßen– in unserer je eigenen Sprache: ich bin heimat-los, arbeits-los, wehr-los oder hungrig (auf Türkisch acim) oder einsam (ja sam sam auf Kroatisch) oder krank (chorý auf Slowakisch); oder die Geißeln AIDS, WAR…
Zahlen erinnern an die Stationen des Kreuzwegs, der sich in der christlichen Tradition entwickelt hat. Sie führen im Tuch von links unten nach rechts oben. Zuerst in den Farben des blutenden Rots, nach oben hin übergehend in das Blau einer erlösten Zukunft. Sie enden oberhalb des Kreuzes im Blau der 15. Station, die hinaufführt zum Blau des Glases, in dem das Göttliche auf uns zukommt und wir uns dem Göttlichen nähern.
Offen bleibt, wer hier leidet und spricht, ob ich es – bin – war – oder Jesus
Über das aus der Erfahrung bekannte Verbinden durch Mutter, Geschwister und andere helfende Hände ist mir ein Satz in Erinnerung aus dem Jubelgesang der Osternacht, dem Exsultet:
„Selig die Schuld, die eines solchen Erlösers würdig war…“
Jeder Tag ist eine Wunde wert (Dieter Fringeli)
Jeder Tag ist auch ein Ruf der Sehnsucht nach Heilung und Erlösung.
Ich wünsche, dass wir durch das Tuch angeregt werden, aufmerksam auf die Leiden zu schauen und mit offenen Augen den Weg der 40 Tage der Bußzeit auf die Auferstehung zuzugehen.
Kurt Zisler